Luther, Martin – Ein Sendbrief und Verantwortung etlicher Artikel, an eine christliche Gemeinde der Stadt Esslingen. 1523

Meinen lieben Herren und Freunden in Christus, allen christlichen Bürgern zu Esslingen.

Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Es sind mir etliche Thesen‘ durch Michael Stiefel zugeschickt, die Euer Pfarrer und seine Nebenprediger aufgestellt haben sollen. Nämlich erstens, daß sie hinfort gnädig alle absolvieren wollen, die der lutherschen Lehre absagen, obwohl sie diese, als vom Papst und Kaiser verdammt, von Rechts wegen abweisen müßten. Zweitens: Sie wollen diejenigen abweisen und nicht absolvieren, die gegen Brauch und Übung der römischen Kirche Fleisch oder Eier äßen, wenn sie dies öffentlich und ohne überzeugenden Grund täten. Drittens: Sie wollen die Leute anhalten, all ihre Sünden, deren sie sich bewußt sind, vor dem Priester zu beichten, weil auch Luther selbst die Beichte lobt und preist. Viertens: Sie wollen sich bei den Fällen und Sünden, die Papst und Bischöfen vorbehalten sind, wie bisher verhalten. Fünftens: Weil gute Gewohnheit ebensoviel wie Recht und Gesetz gilt, wollen sie die Leute anhalten, zweimal in der Fastenzeit zu beichten. Sechstens: Sie wollen die nicht absolvieren, die nicht Buße leisten, sondern geltend machen, Christus habe für sie alle genug getan.

Eigentlich ist es nicht nötig, meine Liebsten, auf solch armselige, leichtfertige Thesen zu antworten, zumal ich nicht daran zweifle, daß es viele bei Euch gibt, die deutlich sehen, welche Blindheit und Torheit in ihnen liegt. Und wer nicht fester am Evangelium hält, als daß er von solchen Thesen bewegt wird ich weiß nicht, was es ihm hülfe, wenn ich hundertmal dagegen schriebe, zumal ich in so vielen Büchern so viele Male alle diese Menschenträume und Narrenpossen mit eindringlichen Schriften widerlegt und genügend geschwächt habe. Doch weil es so herzlich von mir begehrt wird, will ich Eurer Liebe aufs kürzeste, so weit ich Muße habe, darüber schreiben.

Zunächst, wir haben so gepredigt, gelehrt und geschrieben: daß all unser Tun nichts vor Gott gilt und daß wir an allen Werken und all unserem Vermögen verzweifeln müssen; sondern allein durch Christi Blut und Verdienst können wir von Sünden erlöst und selig werden, wie St. Paulus spricht Rom. 3,23 f.: »Sie sind allzumal Sünder und haben nichts, dessen sie sich vor Gott rühmen könnten, werden aber ohne Verdienst gerechtfertigt aus seiner Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus geschehen ist, den Gott hat vorgestellt zum Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut« usw.

Da sehen wir, daß nicht unser Werk wir alle sind Sünder und können nichts als sündigen -, sondern Christi Blut uns erlöst, wenn wir das glauben. Denn ich kann gewiß Christi Blut und Erlösung nicht mit Werken verdienen. Wozu wäre sonst der Glaube notwendig, der allein solche Erlösung erfaßt und erwirbt und festhält? Und wenn unsere Werke so viel vermöchten, daß sie einer einzigen Sünde Erlösung und Vergebung erwürben, so könnten sie auch zweier, dreier, zehner, ja zuletzt aller Sünden Vergebung erlangen. Können sie aber nicht aller Sünden Vergebung verdienen, so können sie auch nicht von einer Sünde erlösen. Nun steht aber hier ein klarer Text, daß ohne Verdienst und frei umsonst die Sünden vergeben werden durch Christi Blut, mit dem er uns erlöst hat. So muß nun entweder wahr sein, daß wir nicht eine Sünde mit unserem Tun tilgen und Gnade erlangen können; oder könnten wir eine Sünde tilgen, so können wir sie auch alle tilgen. Wenn wir aber Sünde mit Werken tilgen und Gnade erlangen können, dann ist Christi Blut unnötig und grundlos vergossen, dann ist falsch, was St. Paulus sagt: Es werden die Sünden ohne Verdienst, frei aus Gnaden durch Christi Blut jedermann vergeben, der das glaubt.

Das ist das Hauptstück und das Fundament christlicher Lehre, daß wir nicht durch unsere Werke Sünde abbüßen oder tilgen können, sondern wir glauben, daß Christus mit seinem Blut das getan habe und daß dieser Glaube ohne alle Werke alle Sünde tilge. Aus diesem einzigen Hauptstück seht Ihr, daß Eures blinden Pfarrers Thesen alle zusammen unchristlich sind und wider das teure Blut Christi schändlich lästern, wie auch Papst, Bischof, Kaiser und Fürsten, die solche Lehre verdammen und verfolgen, die so offenkundig von St. Paulus dargelegt ist. So verhält sich nun Euer Pfarrer wie ein Wolf und nicht wie ein Seelsorger, wenn er in der sechsten These Bußleistungen für die Sünde fordert, gerade als könnten unsere Werke eine einzige Sünde sühnen, was doch ein so großes Amt ist, das niemand im Himmel und auf Erden vollbringen konnte als Gottes Sohn selbst, allein durch sein eigenes Blut, wie es Hebr. 1,3 steht: »Er hat durch sich selbst der Sünden Peinigung erwirkt.« Wer nun dieser These des Pfarrers folgen will, der muß Christus und sein Blut verleugnen und eine Abgötterei aufrichten, wie es der Pfarrer mit seinen Anhängern tut.

So ist die erste These auch eine Verdammung des Blutes Christi. Denn der Luther ist wegen nichts anderem verdammt, als weil er lehrt, Christi Blut sei durch den Glauben zur Vergebung der Sünde allein nütze und notwendig. Das ist gegen den Papst und all seine Gesetze, der lehrt, es durch eigene Werke auszurichten. Darum stehen Christi Lehre und des Papstes Lehre wider einander wie Tag und Nacht, wie Tod und Leben. Wer nun dieser These folgt, der ist vor Gott verdammt; wer ihr nicht folgt, der ist mit Christus und seiner Lehre vor der Welt von Papst und Kaiser verdammt.

Die zweite These ist töricht und unsinnig, da sie die Meinung vertritt, daß solcher Gehorsam und das Vermeiden von Fleischessen ein gutes Werk sein und Sünde abbüßen könne. Denn wie gesagt: Es tut’s weder Essen noch Trinken, weder Hunger noch Durst, sondern das Blut Christi alleine. Ist dem nun also, daß solcher Gehorsam die Sünde nicht tilgt, so kann auch der Ungehorsam keine Sünde sein. Denn wo Gehorsam unnötig und unnütz ist, da ist auch Ungehorsam ohne Schaden und Gefahr. Darum ist es vor Gott keine Sünde, Fleisch oder Fisch zu essen an dem Tag, an dem ich will, wie St. Paulus lehrt Röm. 14,17 und 1. Kor. 8,8: »Essen und Trinken bringt uns nichts vor Gott.« Ebenso: »Gottes Reich ist nicht Essen und Trinken, sondern Liebe, Friede und Freude.« Wer nun durch diese These sein Gewissen binden läßt, der verleugnet abermals Christus und sein Blut und ist ein Heide.

Sodann haben wir als zweites Hauptstück gelehrt, christliches Leben sei die Liebe zum Nächsten, so daß wir hinfort kein Gesetz haben noch jemandem etwas anderes schuldig sind als Lieben, Röm. 13,8; auf daß wir ebenso unserm Nächsten Gutes tun, wie uns Christus durch sein Blut getan hat. Deshalb sind alle Gesetze, Werke und Gebote, die von uns gefordert werden, um Gott damit zu dienen, daß wir Sünde abbüßen, nicht aus Gott, und wer sie hält als da sind Fasten, Feiern, Beichten, Wallfahrten, Stiftungen usw. -, der verleugnet Christus. Doch die Gesetze, Werke und Gebote, die von uns dem Nächsten zu Dienst gefordert werden, die sind gut, die sollen wir tun, wie der weltlichen Gewalt in ihrem Regiment gehorchen, folgen und dienen, die Hungrigen speisen, den Bedürftigen helfen usw.

Daraus folgt: Weil Beichten ein Werk ist, das nicht auf den Nächsten gerichtet ist, und weil ihm damit nicht gedient wird, ist es in keiner Weise geboten oder notwendig zu halten. Und wer es so tut, als sei es notwendig und als müsse er es vor Gott tun, der verleugnet abermals Christus. Denn es kann durchaus kein Werk notwendig bleiben gegen die Sünde, weil allein Christi Blut die Sünde tilgt.

Darum ist die dritte, vierte und fünfte These des Pfarrers unchristlich und frevelhaft aufgesetzt, die Gewissen zu binden und Christi Blut mit Füßen zu treten, nur damit ihm der Beichtpfennig nicht entgehe.

Wahr ist, daß ich gesagt habe. Beichten sei ein gutes Ding. Ebenso wehre ich nicht dem Fasten, Wallfahrten, Fischessen, Feiern usw. Aber doch so, daß dies frei geschehe und niemand es so tue, als müsse er es tun um des Gewissens willen und weil er sonst die Gefahr einer Todsünde liefe, wie der Papst mit seinen Blindenführern tobt. Das Gewissen wollen und sollen wir frei haben in allen Werken, die nicht dem Glauben oder der Liebe zum Nächsten dienen. Beichte nur getrost, faste fröhlich, wenn du willst, aber denke nicht, es müsse sein und du tuest Sünde, wenn du es läßt, oder du könntest vor Gott damit deine Sünde sühnen. Denn mit solcher Meinung fällst du vom Glauben und bist nimmermehr ein Christ.

Weil es nun viele schwache Gewissen gibt, die in den Papstgesetzen gefangen liegen, so ist es wohlgetan, wenn du kein Fleisch ißt usw. Denn dies Kein-Fleisch-Essen wird dann ein Werk der Liebe, weil du damit deinem Nächsten dienst, um seiner Lebensweise zu folgen und sein Gewissen zu schonen. Wenn aber dein Nächster sich daran nicht stößt oder nicht sieht, daß du Fleisch ißt, dann darfst du Fleisch essen ohne Rücksicht auf den Papst. Denn hier zielt das Werk nicht mehr auf die Liebe und auf Dienst am Nächsten, darum brauchst du es nicht zu halten, es gelüste dich denn, es aus freiem Willen zu tun.

Solche Ordnung der Werke in der Liebe sind wir schuldig, aber die Werke um ihrer selbst willen sind wir nicht schuldig. Wo aber freche Treiber und nicht schwache Gewissen auftreten und eine Notwendigkeit oder ein Gesetz daraus machen wollen, da soll und muß man ihnen zum Trotz das Gegenteil tun, auf daß nicht den Werken, sondern allein dem Blut Christi die Ehre bleibe, Sünde zu tilgen und fromm zu machen.

Dies habe ich, meine Allerliebsten, in Eile auf die unverständigen Thesen Eures Seelentyrannen um der schwachen Gewissen willen antworten wollen. Weitere Gründe und Erklärungen mögt Ihr in meinen Büchlein von der christlichen Freiheit, von den guten Werken, von den Klostergelübden, von Menschenlehre zu meiden usw. nachlesen. Obwohl ich wollte, daß jedermann St. Paulus läse und hörte, der das alles in seinen Briefen so reichlich lehrt, so daß meine oder anderer Leute Bücher nicht nötig wären. Gott aber verleihe Euch rechtschaffene und evangelische Lehre und daß sein Wort bei Euch Frucht bringe zu Lob und Ehre der unaussprechlichen Gnade Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen. Betet für mich, meine Liebsten. Gegeben zu Wittenberg am Sonntag nach Dionysius, 1523.

Martinus Luther