Severus, Wolfgang – An Thomas Blaurer

Linz, 29 Oktober 1523

In meinem Brief an Agricola, dem ich von Passau aus auf Mahnung von Gundelius schrieb, habe ich Dich grüßen lassen und mich entschuldigt, daß ich nicht einen eigenen Brief an Dich senden könne wegen der Abreise in die Heimat. Nachdem ich kaum eine Nacht dort verweilt, wurde ich an den Hof meines Gönners gerufen, der mich freundlich empfing und dem ich versprechen mußte, den Winter bei ihm zuzubringen. Inzwischen forderte mich mein vertrauter Freund Erasmus Axinurus schriftlich auf, nach Linz zu kommen, und teilte mir nach der Begrüßung mit, daß er in zwei Tagen nach Wittenberg verreisen wolle. Gern mache ich Gebrauch von dieser Gelegenheit, Euch zu schreiben, wie ich bei der Abreise versprochen habe, obwohl nicht viel zu berichten ist, als daß Herzog Ferdinand allenthalben streng verbietet, das Evangelium unter dem Volk zu verbreiten. Manche gehorchen, den Lüsten frönend, nur zu gern; das einfache Volk aber erbarmt mich, das, was immer es hört, als Gottes Wort annimmt. Welch ein Elend, daß unter allen Pfarrern in dem großen Erzherzogtum keiner ist, der durch die Finsternis Christus sähe und seine Lehre auch nur mit den Lippen gekostet hätte; gegen alle Anhänger einer reineren Religion aber wüten sie. Christus lasse auch für uns das Licht seiner Gerechtigkeit die Finsternis durchbrechen. Ihr seid glücklicher, die ihr den wahren Apostel Christi, Luther, und so manche andere hören könnt. Lebe wohl, grüße Kaspar Cruciatus und Kilian; ich werde ihnen gern erwidern, wenn sie mir schreiben. Wenn etwas Neues geschieht, teile es mir mit und laß unseren Verkehr durch die räumliche Trennung nicht ganz unterbrechen.

Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer
1509 – 1548
Herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission
Bearbeitet von Traugott Schieß
Band I
1509 – Juni 1538
Freiburg i. Br.
Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld
1908