Luther, Martin – An Hieronymus Scultetus, Bischof zu Brandenburg. 1518

Aus dem Lateinischen. Wahrscheinlich am 13. Februar 1518

Lieber Herr Bischof! Als jüngst in unserer Gegend neue und unerhörte Lehren vom päpstlichen Ablaß laut wurden und viele Gelehrte und Laien allenthalben in Verwunderung und Aufregung gerieten, da wurde ich von vielen, Bekannten und Unbekannten, schriftlich und mündlich befragt, was ich von diesen überraschenden, um nicht zu sagen ungebührlichen Äußerungen hielte. Eine Weile suchte ich auszuweichen, bis es zu heftigen Aussprachen kam, bei denen sogar das Ansehen des Heiligen Vaters Gefahr zu laufen drohte.

Was konnte ich tun? Etwas Bindendes zu äußern, lag außer meiner Gewalt, und ich empfand Scheu, den Ablaßhändlern entgegenzutreten, denen ich von Herzen wünschen mußte, daß ihre Predigt jedermann als lautere Wahrheit erscheinen möchte. Doch die andern erwiesen deren Lehre so beharrlich mit den klarsten Gründen als falsch und hohl, daß sie mich, das ist ungelogen, endlich völlig einschlossen und festlegten.

Um also beiden Teilen zu genügen, hielt ich es für den besten Ausweg, keinem zuzustimmen und keinem zu widersprechen, sondern über einen so wichtigen Gegenstand zu disputieren, bis die heilige Kirche festsetze, was zu glauben wäre. So ließ ich denn meine Thesen ausgehen, lud jedermann öffentlich zur Disputation ein und richtete dem Herkommen gemäß an alle Gelehrten die besondere Bitte, wenigstens brieflich ihre Ansicht kundzutun. Denn es schien mir, als ob weder die Bibel und die Kirchenlehrer, noch auch die Kanones selbst bis auf einzelne Verfasser, die sich dazu ohne Schriftbeleg äußerten, und bis auf ein paar Scholastiker, die gleichfalls ohne Beweis die gleiche Meinung verfochten, gegen meine Sätze sprächen.

Mir wenigstens erscheint es so unbegreiflich wie nur etwas, daß in der Kirche Dinge gepredigt und gelehrt werden sollen, die nur geeignet sind, sie ihren Feinden zu Hohn und Spott preiszugeben. Das muß aber geschehen, wenn sie über etwas Beschwerde führen, ohne daß wir Rechenschaft davon geben können.

Des weiteren gilt bei den Scholastikern und Kanonikern der Satz, daß kein Glaube beim Ablaß notwendig sei. Doch das ist weiter nichts als ihre ganz persönliche Ansicht; und das Sprichwort sagt: „Turpe est juristam loqui sine textu.“ (Es ist schimpflich, wenn ein Jurist ohne Text spricht.) Aber noch viel schändlicher ists, wenn Theologen „ohne Text reden.“ Die Scholastiker haben zwar Beweise aus Aristoteles, den sie immer und ewig heranziehen, nicht aber Beweise in unserm Sinne, keine aus der Schrift, keine aus den kirchlichen Kanones, und keine aus den Kirchenvätern.

Obwohl daher über diese Fragen die Ungewißheit so groß und ihre Bejahung unter Umständen so gefährlich war, erschien es mir doch als meine Aufgabe und meine Pflicht, sie zur Disputation zu stellen. Hatte doch von den scholastischen Disputationen noch niemand selbst die heiligsten und ehrwürdigsten Glaubenssätze auszuschließen gedacht, an denen jahrhundertelang kein Christ Zweifel erhoben hat.

Wie tief verworfen muß Gottesfurcht und Gottesdienst von Menschen sein, die keine Disputation über die Macht von Kirche und Papst dulden und die in diesen Fragen bloß stumme Treue und Dankbarkeit gelten lassen wollen! Schon das Stammeln des Kindes findet hier Ausdrücke der Entrüstung. Warum hüllen sie sich nicht in dankbares Schweigen und warum stellen sie nicht ihre albernen Disputationen ein, wenn es sich um Macht und Weisheit und Güte dessen handelt, der der Kirche erst jene ihre Macht verliehen hat? Nichts ist so verborgen in Gottes höchster Majestät und heiligster Menschlichkeit, das sie nicht mit ihren läppischen Tändeleien besudelt haben. Kein Herz kann man finden, aus dem sie nicht durch ihr ewiges Possenspiel mit Gott Liebe und Ehrfurcht getilgt haben. Doch davon ein andermal.

So forderte ich denn alle zu diesem Kampf heraus, doch niemand erschien. Dann bemerkte ich, daß meine Sätze in weitere Kreise drangen, als ich gewollt hatte, und allenthalben nicht als Thesen, sondern als Glaubenslehren aufgenommen wurden. So wurde ich denn gegen meine Erwartung und meinen Wunsch genötigt, mit meiner kindischen Unerfahrenheit an die Öffentlichkeit zu treten. Ich mußte den Thesen Erklärungen und Auslegungen folgen lassen; denn ich wollte lieber in die Schande der Unwissenheit fallen, als Menschen irre geleitet haben, die leicht alles für bare Münze nehmen. Einiges ist mir noch zweifelhaft, vieles weiß ich nicht, etliches leugne ich jetzt; aber nichts wage ich davon bindend zu behaupten, und alles unterwerfe ich dem Richterspruch unserer heiligen Kirche.

Bester Herr Bischof! Durch Christi Gnade seid Ihr mir zum Ordinarius gegeben. Ihr liebt die Ehrlichen und Unterrichteten – das wird von vielen und allenthalben gerühmt: und noch mehr, Ihr bringt ihnen auch in einzigartiger Freundlichkeit und Demut Verehrung und Achtung entgegen, so weit es Euch Eure priesterliche Würde nur irgend gestattet. Aber meine Schmeichelei soll verstummen, wenn sie auch nicht Euch, sondern die Gaben Gottes in Euch zu erheben trachtete. Jedenfalls ist es in der Ordnung, Euch, dem Aufsicht und Entscheidung über die wissenschaftliche Tätigkeit unserer Stadt zustehen, mein Werk zuerst zu bringen und in Eure Hand die erste Entscheidung zu legen.

Gnädigster Herr Bischof! Nehmt deshalb diesen meinen schwächlichen Versuch gütig auf, und damit alle sehen, wie fern mir dreiste Behauptungen liegen, erlaube ich Euch, ja bitte ich Euch auf den Knieen, verehrungswürdiger Vater, nehmt die Feder und tilgt aus, wovon es Euch nötig scheint, oder werft das Ganze ins Feuer, es soll mir nichts daran gelegen sein. Ich weiß, Christus bedarf meiner nicht und wird ohne mich kundtun, was seiner Kirche dient. Wenn das Werk nicht sein ist, soll es auch nicht mein sein; nichts und niemandes soll es sein, zumal da nach Gregor von Nazianz auch die Äußerung der Wahrheit, vor allem durch den Mund schwerer Sünder, für das Heil der Kirche bedenklich sein kann.

So erkläre ich denn hierdurch zu meiner Sicherheit, daß ich disputieren, nicht normieren wollte. Ja: disputieren und nicht normieren; und disputieren voller Furcht, aber nicht vor den Bullen und Drohungen von Menschen, die selbst ohne Furcht für ihre Hirngespinste Glauben fordern, als wären sie ein Evangelium. Nein, eben ihre Frechheit und ihr Unwissen hat mich gezwungen, meiner Furcht nicht nachzugeben. Wäre jene nicht so gewaltig gewesen, hätte nur mein Engel mich hören sollen. Nur das eine mußte mein Streben sein, niemandem der Anlaß zu Irrglauben zu werden. Den Ruhm soll der haben, des er allein ist, der gepriesen ist in alle Ewigkeit, der uns, lieber Herr Bischof, bewahre und uns regiere lange Zeit und zum Segen. Amen. Ich biete Euch meinen Segenswunsch und bitte Euch noch mehr um den Euren.

In unserem Kloster zu Wittenberg.

Quelle:
Martin Luther Briefe In Auswahl herausgegeben von Reinhard Buchwald Erster Band Leipzig / Im Inselverlag / mdccccix