Die Gewissenspflicht der Auswanderung.
Ich hätte früher geschrieben, hätte mich nicht die Hoffnung auf dein Kommen, die mir dein Brief machte, zurückgehalten. Dein langes Zögern scheint nun anzudeuten, dass du entweder deinen Plan geändert hast, oder irgendein Hindernis deiner Abreise in den Weg getreten ist. Ich möchte lieber das Zweite annehmen, wenn nur nichts Trauriges und kein Unglück wäre und dich nicht für lange hinderte. Doch ich muss fast vermuten, was ich nicht möchte, dass du nicht mehr desselben Sinnes bist wie früher. Hoffentlich täusche ich mich darin. Ists so, so steht es ja gleich in deiner Macht, mir meinen Irrtum nachzuweisen, und ich bitte dich dringend, das zu tun. Wenn du dich über irgendein Unrecht beklagen kannst, das dir von mir geschehen, so will ich gern meine Schuld abbitten, oder wenn du strenger bist, mich auch der Strafe nicht weigern. Nur nimm uns durch dein Kommen die Sorge ab, die uns jetzt noch in Spannung hält. Es entgeht mir nicht, wie viel man dort Tag für Tag vorbringen wird, um den Plan zu durchkreuzen, den du gefasst hast, wie viel dir auch selbst in den Sinn kommen kann. Willst du aber meinem Rat oder doch meinen Bitten folgen, so möchte ich zwei Dinge von dir haben. Gib dich erstens nicht der Lockung schmeichelnden Menschengeredes hin, sondern geh lieber in dich und frage dein eigenes Gewissen da innen, was du tun sollst. Zweitens mache niemand zum Richter und Berater über dich als Gott selbst. Denn ich sehe, wie viele, besonders Leute deines Standes, sich allerlei vormachen, was ihnen gefällt. Ich glaube zwar nicht, dass du zu denen gehörst, die trunken in Selbstgefälligkeit sich sorglosem Wesen hingeben, aber doch scheint mir die Mahnung nicht überflüssig: sei scharf und streng mit dir selbst, damit nicht etwa durch Sorglosigkeit die Gleichgültigkeit über dich komme. Wenn vor kurzem sich vieler Herzen an einer ungewissen Hoffnung aufrichteten [so sage ich]: wäre nur ein zuverlässiger Grund dazu vorhanden! Wenn es manchen Leuten Freude macht sich von nichts viel zu versprechen, so gönne ich ihnen diesen [angenehmen] Irrtum gerne. Dir aber sage ich: Willst du dich nicht selbst betrügen, so hast du keinen Grund, dich durch eine überall so leichtfertig angenommene Meinung [von einer Änderung der Verhältnisse] aufhalten zu lassen. Wenn du die Zeit zur eigentlichen Auswanderung jetzt noch nicht gekommen glaubst, so kannst du dir doch gewiss einen Monat zu einem Besuch bei uns abstehlen. Es ist gewiss besser, einmal zusammen zu reden, als brieflich zu verkehren über Dinge, die man kaum wirklich behandelt, als bis die Sache zur mündlichen Besprechung kommt. Zugleich aber wirst du dabei merken, dass, wenn man rechtzeitig für den Unterhalt sorgt und das Ausweichenwollen vor einem Schaden, der noch gar nicht eingetreten ist, keine Verzögerung schafft, in dieser Sache kein Aufschub notwendig ist. Lebwohl, trefflicher, sehr verehrter Mann. Der Herr sei stets mit dir, er leite dich mit dem Geist der Klugheit und Stärke und lenke deine Schritte zu seines Namens Ehre. Amen.
25. Juli 1553.