Luther, Martin – An Wittiger Canonicus

Bruder M. Luther, Augustinerordens, dem in Christo ehrwürdigen Herrn Wittiger Canonicus zu Breslau, seinem Obern im Herrn den Gruß zuvor.

Anfangs war ich nicht gesinnet an Euch zu schreiben, rechtschaffenster Mann, indem Herr Dominicus Schleupper, unser gemeinschaftliche Freund, alles selbst persönlich besser erzählen würde. Denn er weiß alles, wie es bey uns zugeht. Allein er wollte, ich mögte auch nur eine Zeile niederschreiben. So gehorch ich denn seinem Willen. Man schreibt verschiedene Schriften in Deutschland und Italien wider mich; aber ich laß es gut seyn. Es schreiben doch nur die langöhrigsten Langohre, die sich selbst durch ihr Beginnen beschmitzen. Ich befinde mich an Leib und Geiste ziemlich bas, ausser, daß ich weniger zu sündigen wünsche. Und doch geschieht es, daß ich täglich mehr sündige, was ich Euch und Eurem Gebete will geklagt haben. Uebrigens hat sich die Faction der Dominikaner zur Ruhe gelegt, indem ein Verbot an sie erging, daß keiner wider mich schreibe. In ihre Stelle rückten der Bischof von Bayern, die Pfaffen zu Betau, und die Brüder von der Observanz des heil. Franziscus. Ueberwinden diese, so überwinden sie bloß durch unmäßige Grobheit und Albernheit. Ich erinnere mich nicht dümmeres Zeug gelesen zu haben, als jener ihres, die nicht einmal fühlen, ob sie überwinden, oder überwunden werden. Wie bedaurenswürdig ist das Volk, das diesen Wölfen ausgesetzt ist! Aber der Herr mag zuschauen, in dem ihr Euch wohl gehaben möget.

Wittenberg den 30ten Jul. 1520.

Euer
Martin Luther.

Quelle:
D. Martin Luthers bisher grossentheils ungedruckte Briefe. Nach der Sammlung den Hrn. D. Gottf. Schütze, aus dem Latein übersetzt. Erster Band. Leipzig, in Kommission bey Christian Friderich Wappler. 1784.