Calvin, Jean – An Melanchthon in Wittenberg (349)

Melanchthon hatte Calvin ein ziemlich klägliches Briefchen geschrieben mit Nachrichten über die deutschen Kriegsnöte und die Pest. Er hatte darin gesagt, wenn er nochmals in die Verbannung gehen müsse, so werde er zu Calvin kommen. Calvin hatte ihn in Worms kennen gelernt. Zum Inhalt vergleiche auch 298. Über Osiander vgl. 339; er war am 17. Oktober gestorben, doch wusste Calvin dies noch nicht.

Über Einigkeit in der Lehre im Allgemeinen und der Prädestinationslehre im Besonderen.

Angenehmer als dein Brief, den ich anderthalb Monate nach seinem Abgang erhielt, konnte mir in dieser Zeit nichts kommen. Denn zu den ungeheuren Schwierigkeiten, die mich hart genug plagen, kommt fast jeden Tag ein neuer Schmerz oder eine neue Sorge. So müsste ich unter der Last der Leiden, die auf mir liegt, bald vergehen, linderte mir nicht der Herr selbst ihre Schärfe mit seinen Arzneien. Darunter wars kein Kleines, dass ich erfuhr, dass auch du so ziemlich wohl seiest, so weit es dein Alter und die zarte Konstitution deines Leibes erlaubt. Auch dass in deiner Liebe zu mir keine Änderung eingetreten ist, versichert mir dein Brief. Denn es war mir berichtet worden, du seiest durch mein vielleicht allzu freimütiges Mahnen einmal so beleidigt gewesen, dass du den Brief vor einigen Zeugen zerrissen habest. Wenn auch diese Botschaft zu unglaublich klang, so schien sie doch in deinem langen Schweigen und andern Zeichen ihre Bestätigung zu finden, und schließlich musste ich doch etwas vermuten. Umso lieber erfahre ich jetzt, dass unser Verhältnis zueinander heil geblieben ist, wie es sicher, entstanden aus gemeinsamer Leidenschaft fürs Gute, stets heilig und unverletzlich bleiben sollte. Und wie es gar sehr in unserm persönlichen Interesse liegt, die Freundschaft, die Gott in seinem Namen geheiligt hat, in guten Treuen und unerschütterlich bis ans Ende zu pflegen, so handelt sichs dabei auch um Nutzen und Schaden der ganzen Kirche. Denn du siehst, wie vieler Menschen Augen auf uns gerichtet sind; wie die Bösen aus unserm Zwist Anlass zum Lästern suchen, wie die Schwachen auch schon durch die schwächste Eifersüchtelei verwirrt würden. Nicht wenig liegt daran, dass auch zu den Nachkommen kein Verdacht dringe, als sei Uneinigkeit unter uns entstanden. Denn mehr als unsinnig wäre es, wenn wir, die wir uns von der ganzen Welt trennen mussten, gleich im Anfang einer vom andern sich losrisse. Wenn ich nun auch anerkenne und gern gestehe, wie tief unter dir ich stehe, so weiß ich doch, zu welchem Rang Gott mich auf seinem Weltschauplatz erhoben hat, und kann es deshalb nicht verschweigen, dass unsere Freundschaft nicht ohne großen Schaden für die Kirche in Brüche gehen könnte. Und ohne an andere zu denken, ermiss es aus deiner Gesinnung heraus, wie herb es mir wäre, einem Manne fremd zu werden, den ich liebe und verehre wie keinen andern, und den Gott, um ihn seiner ganzen Kirche vor Augen zu stellen, nicht nur mit einer einzigartigen Begabung herrlich ausgestattet, sondern auch als seinen ersten Diener zu großen Taten gebraucht hat. Das wäre ja eine wunderliche, ja abenteuerliche Gefühllosigkeit, wenn wir die heilige Übereinstimmung, an der den himmlischen Engeln in aller Welt gelegen sein müsste, so leichthin für nichts achten wollten.

Indessen hört Satan nicht auf, überall den Samen der Zwietracht auszustreuen, und unsere Sorglosigkeit bewirkt, dass er dazu viel Stoff findet. Schließlich findet er auch seine Werkzeuge, den Brand zu schüren. Soll ich berichten, was in unsrer Kirche zur größten Qual aller Frommen geschehen ist? Schon ein ganzes Jahr ist nun verflossen, seit wir in diesen Kämpfen hin und her geworfen werden. Einige windige Gesellen, die wegen der Gnadenwahl Gottes und der armseligen Unfreiheit des menschlichen Willens mit uns Streit anfingen und öffentlich Lärm schlugen, wussten nichts Passenderes zu unsrer Beschuldigung vorzubringen, als dass sie deinen Namen vorschützten. Als sie merkten, wie leicht es uns war, all die Einfälle, die sie vorbrachten, zu widerlegen, versuchten sie uns mit dem Kunstgriff zu vernichten, wir wollten uns offen von dir trennen. Wir hielten aber [in unsern Behauptungen] solle Mäßigung inne, dass sie keineswegs herausbrachten, was sie in ihrer Schlauheit wollten. Wir bekannten also, ich und alle meine Kollegen, das gleiche Lehrziel, das dir vorschwebe, sei auch uns gesetzt, und im ganzen Streite fiel kein Wort, das für dich weniger ehrerbietig war, als sich ziemte, oder dir das Vertrauen entzogen hätte. Und doch kann ichs nicht hindern, dass mich oft der stille Gedanke furchtbar quält, den Bösen könnte nach unserm Tod die Gelegenheit bleiben, die Kirche zu ärgern, so oft sie wollen, indem sie sich widersprechende Sätze zweier Männer in den Kampf führen, denen es angestanden hätte, wie aus einem Mund ein und dasselbe zu sagen.

Dass sich Osiander uns entzogen, ja sich nicht ohne gewaltsamen Bruch von uns losgerissen hat, ist weder wunderbar, noch sehr bedauerlich. Du hast ja schon früher erfahren, dass er zu den Tieren gehört, die sich nicht bändigen lassen, und ich habe ihn stets zu denen gezählt, die eine Schmach für uns sind. Am ersten Tag, an dem ich ihn sah, habe ich den unheiligen Sinn und das hässliche Benehmen dieses Mannes verabscheut. So oft er einen süßen, edeln Wein loben wollte, führte er den Spruch im Munde: Ich bin, der ich bin [2. Mose 3, 14], oder: Das ist der Sohn des lebendigen Gottes [Joh. 6, 69]; das verriet doch offenen Spott über Gott. Umso mehr wunderte ich mich stets über die Nachsicht, mit der Ihr alle eine solche Bestie hegtet. Besonders erstaunt war ich, in einer deiner Vorreden eine Stelle zu lesen, in der er, obwohl er in Worms ein Muster seiner Verrücktheit geliefert, mehr als reichlich mit Lob bedacht war. Aber weg mit dem, denn je weiter er von uns weg ist, umso besser! Einige andere möchte ich lieber festgehalten wissen.

Doch um auch diese beiseite zu lassen, – es schmerzt mich nicht wenig, dass in unserer Lehrart zu offen ein Widerspruch zu Tage tritt. Ich weiß zwar wohl, wenns nach menschlicher Autorität geht, so wäre es weit billiger, dass ich dir beipflichte, als dass du dich zu meiner Meinung herbeiließest. Aber darum handelt es sich ja nicht, und das wäre von frommen Dienern Christi ja gar nicht zu wünschen. Das aber darf man von beiden Teilen verlangen, dass wir uns einigen auf die reine Wahrheit Gottes. Mir verbietet es aber, ums ehrlich zu gestehen, mein Gewissen, dir in diesem Teil der Lehre zuzustimmen, weil mir scheint, vom freien Willen lehrest du zu sehr nach Philosophenart, und bei der Behandlung der Gnadenwahl habest du dir nichts anderes vorgenommen, als dich der allgemeinen Auffassung der Menschen anzupassen. Einem bloßen Versehen kann mans doch wohl nicht zuschreiben, dass du, scharfsinniger, kluger und in der Schrift wohl erfahrener Mann, die Gnadenwahl Gottes mit den Verheißungen, die allen gelten, verwechselst! Denn es ist doch nichts bekannter, als dass die Predigt des Wortes allen ohne Unterschied gemeinsam gilt, der Geist des Glaubens aber den Auserwählten allein als besonderes Vorrecht geschenkt wird. Allgemein gültig sind die Verheißungen. Woher kommts dann also, dass nicht bei allen ihre Wirkung gleich stark ist? Nur, weil Gott nicht allen seines Armes Macht offenbart. Auch bei nur mittelmäßig in der Schrift bewanderten Leuten braucht das ja gar keine weitere Verhandlung, dass zwar die Verheißungen allen die Gnade Christi anbieten und durch die äußere Verkündigung Gott einen jeden zur Seligkeit einladet, der Glaube aber eine besondere Gabe ist. Ich glaube, diese ganze Frage, so schwierig und stachelig sie ist, in einem vor kurzem veröffentlichten Buche einleuchtend erläutert zu haben. Da die Sache so klar liegt, so wirst du keinen vernünftig urteilenden Menschen davon überzeugen, dass du wirklich von Herzen etwas ganz anderes lehrst. Es steigert meine Sorge und meinen Schmerz zugleich, dass ich sehe, wie du in dieser Sache beinahe nicht der gleiche Mensch bist wie sonst. Denn ich habe gehört, du habest, als man dir unsern Consensus mit den Zürchern vorlegte, gleich die Feder ergriffen und den einen Satz durchgestrichen, der die Erwählten Gottes genau und nüchtern von den Verworfenen trennt. Das weicht jedenfalls von der Gelassenheit deines Wesens, um von anderm zu schweigen, sehr ab. So will ich dich gar nicht bitten, mein Schriftchen zu lesen oder auch nur zu kosten; ich würde es doch wohl umsonst tun. Könnten wir doch einmal über diese Dinge miteinander reden! Bekannt ist mir ja deine Lauterkeit, deine durchsichtige Offenheit und deine Mäßigung; deine Frömmigkeit aber ist allen Engeln und Menschen wohl bezeugt. So ließe sich hoffentlich diese Sache leicht unter uns schlichten. Deshalb, wenn je sich Gelegenheit böte, wäre mir nichts erwünschter, als zu dir zu eilen. Trifft aber ein, was du fürchtest, so wird es mir in meinen armseligen, traurigen Verhältnissen kein geringer Trost sein, dich noch zu sehen und umarmen zu dürfen, ehe ich aus dieser Welt scheiden muss.

Wir genießen hier übrigens durchaus nicht der Ruhe, wie du meinst. Im Innern viel Arbeit, Schwierigkeiten, selbst ernstliche Unruhen. Draußen, fast in Sehweite, sind die Feinde, von denen jeden Augenblick unserm Hals neue Gefahr droht. Von Burgund sind wir nur fünf Wegstunden entfernt. Vom französischen Gebiet kommt man in weniger als einer Stunde vor unsere Tore. Weil aber nichts seliger ist, als zu kämpfen unter der Fahne Christi, so brauchen dich diese Schwierigkeiten nicht abzuschrecken, uns zu besuchen. Unterdessen leistest du uns schon einen Liebesdienst, wenn du uns von deiner und der ganzen Kirche Lage berichtest. Lebwohl, hochberühmtester Mann und mir von Herzen verehrter Bruder. Der Herr behüte dich mit seinem Schutz, leite dich mit seinem Geist und segne dein frommes Wirken. Meine Kollegen und viele fromme, tapfere Leute lassen dich ehrerbietig grüßen.

Genf 18. November 1552.
Dein
Johannes Calvin.