Calvin, Jean – An den Herrn de Falais.

Jacques de Bourgogne, Sieur de Falais de Bredam, ein Urenkel des Herzogs Philipp von Burgund, am Hof Karls V. erzogen und mit der Herrschaft Falais in Belgien belehnt, hatte sich schon in der Jugend der Reformation angeschlossen und fühlte sich drum in seiner Heimat nicht mehr sicher. Calvin rät ihm deshalb in absichtlich bloß andeutender Rede zur Auswanderung. Der erwähnte Herr, der dazu seine Hilfe anbietet, ist der Refugiant David de Busanton in Genf. Calvin schreibt pseudonym und nennt auch der Gefahr wegen den Adressaten Jacques Le Franc.

Aufforderung zur Auswanderung.

Monsieur, obwohl es gegen die übliche Sitte ist, dass ich mir die Freiheit nehme, Ihnen vertraulich zu schreiben, bevor ich Ihnen recht bekannt bin, so bin ich doch sicher, dass Sie meinen Brief wohl aufnehmen werden, und es wäre geheuchelt, wollte ich mich lang entschuldigen, wie wenn ich daran zweifelte. So will ichs denn in dieser Sache machen wie einer Ihrer Freunde, nämlich ohne weitere Einleitung.

Die Angelegenheit, die ich mit Ihnen behandeln möchte, forderte zwar eigentlich unser Beisammensein, um mindestens einen halben Tag darüber reden zu können. Tatsächlich war es auch seit vier bis fünf Monaten oft mein Wunsch, Gott möge uns die Gelegenheit dazu einmal schenken. Ich bin auch jetzt noch im Zweifel, ob ich Sie bitten soll, zu besserer Beratung eine Reise zu unternehmen, damit wir nach näherer Betrachtung und Besprechung beschließen könnten, was zu tun ist. Denn wenn es sich darum handelt, die Sache als noch unentschieden in Erwägung zu ziehen, so ist noch manches einzuwenden und zu widerlegen, ehe Sie zu einem Entschluss kommen können; und es wäre töricht und unbedacht von mir, das alles brieflich verhandeln zu wollen. Aber schließlich habe ich andrerseits gedacht, dass, wenn Ihnen unser Herr schon den Mut gegeben hat, uns aufzusuchen in der guten Absicht, bei uns Ruhe im Herrn zu finden, es ja verlorene Mühe wäre und bloß Aufenthalt und Verzögerung, wenn ich Ihnen riete, hierher zu reisen, nur um zu sehen, wie es hier ist, und sich dann danach richten zu können. Deshalb bin ich nicht der Meinung, Sie sollten sich diese überflüssige Mühe machen, um dann nachher gleich weit zu sein wie vorher. Das wäre ja auch möglich, wenn die Gelegenheit dann nicht ebenso günstig wäre wie eben jetzt.

Ich bedenke die Schwierigkeit wohl, die für Sie im Hinblick auf die Welt liegt und in den Bedenken, die Sie in der Welt festhalten wollen. Aber Sie müssen eben da zu einem bestimmten Entschluss kommen und dann alles abweisen, was Ihnen als diesem Entschluss widersprechend vorkommt. Freilich, ein solcher Entschluss darf auch nicht leichtsinnig gefasst werden, d. h. ohne Begründung und das feste Bewusstsein, weshalb man sich so entschließt. Aber wenn Ihr Gewissen fest geworden ist in einem Bekenntnis, das besser und stärker ist als alles, was Ihnen die Welt bieten kann, so müssen sie ganz darauf bestehen und alle Hindernisse, die Sie abwendig machen wollen, ansehen als Fallstricke des Satans, der Ihnen den Weg verlegen möchte. Doch glaube ich nicht, noch viele Gründe anführen zu müssen, zum Ihnen zu zeigen, was nach Gottes Willen handeln heißt. Ich denke, das ist Ihnen schon ganz klar. Es ist bei Ihnen nur noch einerseits das Bedauern, so manches lassen zu müssen, andrerseits die Furcht, nicht zu treffen, was Sie sich wünschen. Aber alles Bedauern der weltlichen Dinge lässt sich doch überwinden durch den einen Gedanken, dass es keine unglücklichere Lebenslage und Gemütsstimmung gibt, als beständig einen Zwiespalt in sich herumzutragen oder vielmehr von einer unauflöslichen Qual im eigenen Innern gepeinigt zu sein.

Nun fragen Sie sich, ob Sie Frieden mit Gott und Ihrem Gewissen haben können in Ihrem gegenwärtigen Zustand. Wenn Sie die Hoffnung auf bessere Zeiten zurückhält, so müssen Sie fürs erste ja deutlich sehen, wie der Abgrund sich immer weiter auftut, und Sie mit der Zeit immer tiefer hineingeraten.

Zweitens, wenn es Gott gefiele, die gegenwärtige Missordnung zu bessern, welche Freude wäre es für Sie, sagen zu können: So lang mein Meister aus meinem Vaterland verbannt war, wählte ich freiwillig die Verbannung, um ihm zu dienen, jetzt wo er wieder eingezogen ist, komme ich auch zurück, um hier zu leben. Freilich hat es nicht den Anschein, als sollte das in Bälde geschehen. Deshalb ist es das Beste, auszuziehen, ehe Sie wie ein Ertrinkender so tief versunken sind im Seetang, dass Sie sich nicht mehr losreißen können. Ja, es heißt hier: je bälder, je besser. Denn in solchen Dingen muss man die Gelegenheit benützen, wenn sie sich bietet, und es so ansehen, dass der Herr, wenn er uns ein Mittel zeigt, uns gleichsam eine Türe öffnet; da heißt es dann eintreten ohne Zögern, damit die Türe nicht wieder geschlossen wird, während wir uns mit Beratungen aufhalten. Die Hauptgelegenheit sehe ich nun darin, dass der Herr die Herzensbande gelöst hat zwischen Ihnen und Ihrer Umgebung und Ihnen so in der Liebe zu ihm, die er in Ihnen wachgerufen hat, leicht macht, was sonst so schwer scheint. In einem solchen Fall müssen wir, nach der Mahnung des heiligen Apostels, die Gaben des Geistes brauchen, sie in Tat und Wirkung umsetzen, sie nicht absterben lassen, damit sie nicht ganz erlöschen durch unsere Achtlosigkeit. Je alles bequem nach unserem Wunsch zu haben, dürfen wir gar nicht erwarten. Denn wäre es so, welche Bewährung unseres Glaubens gäbe es dann? Zweifellos hat unser Vater Abraham auch außerordentlichen Widerstand gefunden, als er aus seinem Lande ausziehen musste und hatte auch nicht alles nach seinem Wunsch; trotzdem eilt er fort ohne Zögern. Sind wir seine Kinder, so müssen wir ihm auch folgen. Freilich haben wir keinen ausdrücklichen Offenbarungsbefehl, unser Land zu verlassen. Aber da wir das Gebot haben, Gott zu ehren mit Leib und Seele, wo wir auch seien, was wollen wir mehr? Da richten sich die Worte doch auch an uns: Gehe aus deinem Vaterlande, wenn wir gezwungen werden, wider unser Gewissen zu handeln, und nicht zur Ehre unseres Gottes leben können. Übrigens wird der Herr Ihnen mit der Möglichkeit, wegzukommen, auch die Klugheit schenken, sie zu brauchen, und Sie sind ja am rechten Ort, um sehen zu können, was Ihre Angelegenheit erfordert. Nur soviel wünschte ich, dass Sie danach streben, soviel wie möglich aus dem Wirrsal herauszukommen, damit Sie umso munterer und freier sind, nachdem Sie sich aus den Schlingen befreit haben. Alles mit Hilfe der guten Freunde, die mit Ihnen sind, um Sie mit Rat und Tat zu unterstützen.

Der gute Herr, den Sie so sehr zur Handreichung herbeiwünschen, reist zu Ihnen mit dem Anerbieten, alles zu tun, was er von seiner Seite kann, um seine Pflicht zu erfüllen. Sicher soll sein Eifer auch Sie antreiben und ein neuer Sporn für Sie sein, die gute Geistesgabe, die schon in Ihnen ist, zu mehren und zu entflammen.

Da nun das übrige nicht gut brieflich verhandelt werden kann, so bitte ich den lieben Vater im Himmel, Ihnen mehr die Augen aufzutun, dass Sie sehen, was er Ihnen schon verliehen hat, und Ihnen auch Kraft und Beharrlichkeit zu schenken, dass Sie den Weg gehen, den er Ihnen zeigt. Schließlich möge er Sie leiten in allem und überall durch seinen heiligen Geist und Sie behüten mit seinem Schutze. Damit empfehle ich mich untertänigst Ihrem Wohlwollen, ohne dabei die gute Gesellschaft von lieben Herren, die bei Ihnen sind, zu vergessen.

[Genf, 14. Oktober 1543.]
Ihr Diener, untertäniger Bruder und Freund
Charles d´ Espeville.