Melanchthon an Luther.

Vom 26. Jun. 1530.

Wir sind hier in dem größten Jammer und müssen beständig Thränen vergießen, deren anheute die äußerste Bestürzung unserer Gemüther noch mehr gemacht, nachdem wir M Veit’s Briefe gelesen, darinnen er zu erkennen gibt, Ihr seid über uns dermaßen böse, daß Ihr unsere Briefe nicht einmal lesen möget. Ich will nun, mein lieber Vater, meinen Schmerz nicht mit vielen Worten noch größer machen; sondern Euch nur zu überlegen geben, an welchem Orte und in was großer Gefahr wir uns befinden, da wir außer Eurem Trost gar keine Erquickung haben können. Die Sophisten und Mönche laufen alle Tage zu, und bemühen sich, daß sie den Kaiser gegen uns aufbringen. Die vorhin auf unserer Seiten gewesen, sind nun nicht da, und wir schweben ganz verlassen und verachtet in unendlicher Gefahr. Ich bitte Euch demnach, daß Ihr entweder auf uns, die wir Eurem Ansehen in so wichtigen Sachen folgen, oder auf das gemeine Beste sehen, und unsere Briefe lesen und beantworten möget, so. daß Ihr auf der einen Seite uns mit gutem Rath beistehet, auf der andern uns mit kräftigem Trost aufrichtet. Dem Kaiser haben wir unsere Apologie überreicht, die ich Euch hiemit zu lesen übersende. Sie ist nach meiner Einsicht scharf genug gemacht, denn ich habe darin vi? Mönche mit lebendigen Farben abgemalet. Nun kommts aber, wie ich halte, auf eine Entschließung an, ehe die Widersacher darauf antworten, was wir ihnen einräumen wollen in dem Punkt von beiderlei Gestalt, vom Ehestand, von der Privatmesse, die sie schwerlich werden fallen lassen. Diesen Boten habe ich auf meine Kosten abgesendet, und neulich schon einen besondern geschickt, der aber leer wieder zurück gekommen. Die Widersacher gehen bereits zu Rathe, was sie antworten wollen. Nun ist Alles noch still. Gehabt Euch wohl.

Quelle:
Philipp Melanchthon's Werke, in einer auf den allgemeinen Gebrauch berechneten Auswahl. Herausgegeben von Dr. Friedrich August Koethe Erster Theil Leipzig: F.A. Brockhaus 1829