Segen von Christo zuvor! Im Herrn geliebter Vater! Wegen meiner Überbürdung mit Arbeit kann ich Euch nur ganz kurz schreiben. Zunächst glaube ich Euch aufs Wort, daß mein Name in weiten Kreisen in üblem Geruch steht. Denn die braven Leute legten mir schon längst zur Last, daß ich Rosenkranz-, Kronen-, Psalter- und andere Gebete, ja überhaupt alle guten Werke verworfen hätte. So ist es auch St. Paulo von denen ergangen, die behaupteten, daß er lehrte: „Lasset uns Übles tun, auf daß Gutes daraus komme!“ Was mich betrifft, so folge ich der Theologie, die sich bei Tauler und in dem Büchlein1) findet, das Ihr neulich bei unserm Wittenberger Christian Döring zum Druck gegeben habt, und so lehre ich, daß Christen auf nichts andres ihr Vertrauen setzen sollen denn allein auf Jesus Christus, nicht auf Gebete oder Verdienste oder gar ihre guten Werke, weil wir nichts durch unser Laufen, sondern durch Gottes Erbarmen selig werden sollen. So sehen die Predigten aus, aus denen sie die Giftkörner ausmünzen, die Ihr sie ausstreuen sehr. Aber um guter oder schlechter Nachrede habe ich mein Werk nicht angefangen, werde es darum auch nicht lassen. Der Herr möge ein Einsehen haben. Diese Gegner schüren auch gegen mich, weil ich den Scholastikern die Kirchenlehrer und die Bibel vorziehe, und sie werden geradezu unsinnig vor hitzigem Eifer. Ich lese die Scholastiker mit freiem Urteil und nicht mit geschlossenen Augen, wie sie. So hat es uns der Apostel angewiesen: „Prüfet alles, und das Beste behaltet!“ Ich verwerfe nicht alle ihre Sätze, aber ich erkenne sie auch nicht alle an. Aber das ist die Art dieser Großsprecher: aus einer Kleinigkeit machen sie ein Großes, aus einem Fünkchen ein loderndes Feuer und aus einer Mücke einen Elefanten. Aber mit Gottes Hilfe schere ich mich nicht um solche Fratzen. Worte, nichts als Worte sinds und bleibens. Wenn Skotus, Gabriel Biel und ihresgleichen von Thomas abweichen durften, wenn die Thomisten der ganzen Welt ins Gesicht widersprechen dürfen, wenn es innerhalb der Scholastik so viele Sekten gibt als Köpfe und Haare auf jedem dieser Scholastikerschädel: warum soll ich nicht dieselbe Befugnis gegen sie haben, die sie gegen sich selber für sich als gutes Recht in Anspruch nehmen? Aber wenn Gott das Werk führt, da ist niemand, der es wenden kann. Wenn er die Hand ruhen läßt, ist niemand, der es vorwärts bringen kann. Lebt wohl und betet für mich und die göttliche Wahrheit, sie sei auf welcher Seite sie wolle.
Wittenberg am 31. März 1518
Bruder Martinus Eleutherius, Augustiner.
Quelle:
Martin Luther Briefe In Auswahl herausgegeben von Reinhard Buchwald Erster Band Leipzig / Im Inselverlag / mdccccix